Text im gleichnamigen Katalogbuch aus dem Stein Verlag
erschienen 2020
Barbara Höllers Auseinandersetzung mit Raum, der Überlagerung von Flächen, Raster- und Linienstrukturen, Zufallsprinzipien und konsistenten linearen Systematiken, Bewegung und Vibration fußt auf Merkmalen konkreter Kunst und trägt Elemente der Op-Art in sich. Ihre formale wie auch inhaltliche Art zu arbeiten ist von seltener Konsequenz, die genannten Aspekte sind bestimmend für die stringente Weiterentwicklung der Werkblöcke der letzten vier Jahre.
Die mit schwarzem Pigmentliner oder Tusche gefertigten Zeichnungen der Serie „Interferenzen“ stehen 2016 zeitlich am Beginn der beschriebenen Werkreihen. In ihnen beschäftigt sich Höller mit dem sogenannten „Moiré-Effekt“, der grundsätzlich dann auftritt, wenn sich sehr fein ausgeführte Raster überlagern. Zwei bis vier Schraffuren legt die Künstlerin in spitzem Winkel übereinander um flimmernde vier-, fünf- oder sechseckige Raumgefüge zu eröffnen, die als Referenz zu architektonischen Gebilden zu verstehen sind, Wahrnehmungsgrenzen durchbrechen und unsere Sehgewohnheiten herausfordern. In der daran anschließenden Siebdruckserie „Vibration Research“ (2018) setzt Höller nun mehrere Farben ein, um die überraschenden Wirkungen, die sich durch jene Strukturüberlagerungen einstellen, zu erzielen. Das Gesamterscheinungsbild wird dadurch letztendlich atmosphärischer und weicher als im harten Schwarz-Weiß-Kontrast. Wie es der Titel schon vermuten lässt, versteht Höller ihre Serie als Forschungsarbeit, in der sie die optische Interferenz des „Moiré-Effekts“ künstlerisch untersucht. Mit drei oder vier Sieben werden die parallel angeordneten Liniengefüge durch leichte Drehungen und Verschiebungen übereinander gedruckt. Es entstehen komplexe Interferenzmuster, deren visuelle Eindrücke faszinieren
Mit der Wandinstallation „Interferencija“ in der Stadtbibliothek Labin in Kroatien überführt Barbara Höller 2017 die irritierende Wirkung des „Moiré-Effekts“ mittels Tapebändern erstmals in ein raumfüllendes Format, wobei die Abmessungen ihrer Wandinstallationen grundsätzlich immer auf die tatsächlichen architektonischen Gegebenheiten Bezug nehmen. Zwei Jahre später erweitert die Künstlerin ihre Werkserie durch einen zusätzlichen Aspekt: Im Rahmen einer Ausstellung verwendet Höller eine mehrere Meter lange ungenutzte Glasvitrine gleichsam als temporären Bildträger. Erneut verwendet sie ein farbiges Tapeband, um die vermeintlich vibrierenden Muster herzustellen. Beim raschen Standortwechsel, beim Abschreiten des „Hallway in Pink“ (2019) und aus dem Augenwinkel heraus lösen die Spiegelungen im Glas und Durchblicke auf die dahinterliegende Wand in Kombination mit dem Schattenwurf des Liniengeflechts eine visuelle Scheinbewegung der eigentlich statischen Installation aus. Die Vitrine als leer stehender und kaum wahrgenommener Einrichtungsgegenstand erlangt eine neue, veränderte Räumlichkeit.
Immer wieder hat Höller sowohl mit dem Material Glas, als auch mit dem Prinzip der Modularität gearbeitet. In dem Zyklus „White Noise“ (2019) und dem vierteiligen, flexibel veränderbaren Wandobjekt „Yada Yada Yada“ (2019) dynamisieren zwar keine Tapebänder die Wandflächen, wohl aber erneut Schattenwürfe der beidseitig auf die Glasflächen gedruckten Linienraster. So wie „Zeit“, „Bewegung“ und „Raum“ schon in der beschriebenen Vitrineninstallation durch die Schattenwirkung und das aktive Vorbeigehen eine Rolle spielen, setzt sich das modifizierbare Wandobjekt ebenfalls mit diesen drei Aspekten auseinander: „Das Objekt widmet sich der unendlichen Bewegungssimulation. (…) Unter Beibehaltung der Reihenfolge kann der erste Teil stets an das Ende gesetzt werden – aber die Bänder ergänzen sich immer“, erläutert die Künstlerin ihr Werk in einem Kurztext.
Beim Einsatz der Tapebänder und der Entwicklung der damit zusammenhängenden Installationen wird Höller auf die freibleibenden Partien zwischen den Bändern aufmerksam, die sie nun – losgelöst von der Fläche – als Zwischenräume definiert. Den Begriff des „Zwischenraums“ verhandelt Höller in verschiedenen Aspekten seiner Ausprägung. Der Künstlerin geht es hier nicht nur um architektonische und körperhafte Zugänge, sondern auch um die Auslegung des Terminus als Möglichkeitsraum oder Handlungsspielraum, in dem soziale Interaktion stattfindet, persönliche oder strukturelle Rahmenbedingungen erörtert und gestaltet werden oder sich neue technische Möglichkeiten des digitalen Wandels eröffnen.
In Serien wie „Plac“ (2018), „Drift“ (2018), „Arrow“ (2018/19) und „Driften“ (2019) greift sie die Tapes formal wieder auf, die nun als gemalte weiße Linienstrukturen optisch zurücktreten. Die Zwischenräume hingegen werden vertikal strukturiert, in Segmente geteilt oder rücken als pfeilartige, asymmetrische Rauten farbig akzentuiert ins Zentrum des Geschehens. Von Weitem betrachtet, konstituieren sich diffuse Tiefenillusionen.
In „Driften“ (2019) setzt sich die Künstlerin mit dem virtuellen Raum auseinander, in dem die physikalischen Gesetze der irdischen Welt nicht gelten. Nichts ist wirklich eindeutig, nichts ist so, wie es scheint in der Sphäre des Internets, das einer permanenten Wandlung unterliegt und keinen Anspruch auf Endgültigkeit hat. Die Bereitschaft, sich beständig auf Neues einzustellen, sich Sachverhalte von verschiedenen Seiten anzuschauen, um beispielsweise medial aufbereitete Informationen richtig einordnen zu können, spiegelt sich in Höllers flexiblen und gleichzeitig wohl durchdachten und systematisch konstruierten Bildern.
Ein weiterer Aspekt dieser Bildserie beleuchtet im übertragenen Sinn die Geschwindigkeit der Informationsübermittlung im Rahmen digitaler Prozesse. Wenn das Blättern in Ordnern respektive das Streichen am Display von Tablets oder Smartphones die digitalen Bilder kurz vor ihrem Verschwinden zu rautenähnlichen Konstruktionen werden lässt, transformiert sich das Tempo digitaler Datenübertragung und Kommunikationsprozesse für Sekundenbruchteile in eine visuelle Gestalt. Während räumliche Kategorien in digitalen Welten nur mehr virtuellen Charakter haben, versucht Höller diese Bereiche als Zwischenräume bildlich zu fassen und zu erhalten.
In der Werkgruppe „Recall“ (2019) kommt das modulare System, das die Künstlerin seit vielen Jahren als einen wesentlichen Bestandteil ihrer Kunstauffassung verwendet, in erweiterter Form einmal mehr zur Anwendung. Anspruch und Ziel sind hierbei, das Publikum gleichsam partizipativ in den künstlerischen Prozess einzubeziehen, indem es die einzelnen Module gedanklich austauschen soll und somit das Kunstwerk in gewisser Weise als modifizierbar erkennt. Inhaltlich bezieht sich diese Werkreihe auf die Fähigkeit zu erinnern und kritisch zu reflektieren: Es ist zumutbar und nötig, Dinge, Situationen, Faktenlagen oder Sachverhalte stets differenziert zu betrachten. Erst durch das Beleuchten verschiedener Seiten und Ansichten wird deutlich, dass ein Schwarz-Weiß-Denken der Wahrheitsfindung nicht dienlich ist. Die zweiteiligen quadratischen Werke dieser Serie sind folglich so konzipiert, dass deren einzelne hochformatige Bildtafeln in der Reihenfolge verändert positioniert werden können. Trotz des Austausches von links nach rechts oder von rechts nach links finden die in unterschiedlichen Winkeln angelegten schmalen Rauten und Linien zueinander.
Als thematische Schwerpunkte finden sich bei der Künstlerin immer wieder die menschliche Perzeption, Bewegung, Raum, Offenheit und Uneindeutigkeit. Im Bewusstsein der Verwendung verschiedener modularer Methoden stellt sich beim Betrachten von Höllers Arbeiten eigentlich fast automatisch das Bedürfnis ein, die einzelnen Teile der Kunstwerke gedanklich neu zu ordnen und miteinander zu verknüpfen. Dieses Phänomen wird weithin mit „mentaler Rotation“ bezeichnet, ein Begriff aus der experimentellen Psychologie, der die Fähigkeit umschreibt, zwei- oder dreidimensionale Objekte wahrzunehmen, zu erkennen, im Geiste (mental) zu drehen und in anderer Konstellation zueinander in Beziehung zu setzen. Allein durch den Kunstgriff des gedanklichen Neuarrangierens gelingt Höller eine Dynamisierung und Rythmisierung von Bewegung im Raum. Wir organisieren uns gedanklich einen zeitlichen Bewegungsprozess: Welchen Teil der Arbeit kann ich wie positionieren, damit bei der geänderten Zusammenfügung die definierten Schnittstellen als Gesamtbild wieder problemlos interagieren?
Um mit wenigen dünnen Linien reduzierte Raumstrukturen zu schaffen, führt Höller in den bereits 2017 entstandenen Bildfolgen „Flow Down“ und „Trail“ zwei Phänomene zusammen: die Schwerkraft, die als Gesetzmäßigkeit einem festgelegten naturwissenschaftlichen Ablauf folgt und das Zufallsprinzip, das als Ereignis nicht messbar oder vorhersehbar ist und keiner gelenkten Absicht unterliegt.
Anstatt die großformatigen Keilrahmen mit üblichem Leinenstoff zu beziehen, greift Höller auf ein Polyestergewebe zurück, das der Künstlerin aufgrund seiner glatten Oberfläche für ihre Zwecke am besten geeignet scheint. Silvie Aigner beschreibt sehr anschaulich den künstlerischen Prozess Höllers: „Der Bildrand wird in einem zuvor festgelegten Abstand von circa fünf Zentimetern mit einem Punkt markiert. Einmal mehr wird ein Punkt zu Beginn einer Linie, die sich – geleitet durch das Gesetz der Schwerkraft – über das Bild zieht. Am Punkt setzt die Künstlerin die Farbspritze an und trägt die Farbe auf. Das heißt, die vermeintlich gerade – wie mit dem Lineal gezogene – Linie ist eigentlich ein freies Rinnen, ohne vorgegebene Bahn.“ [1]
In der Folge wird der Bildträger mehrmals gedreht und in unterschiedlich geneigten Positionen an der Wand montiert. Die in vielen Versuchen entwickelte verdünnte Acrylfarbmischung fließt entsprechend der Schwerkraft immer vertikal nach unten. Trifft der Lack auf eine bereits trockene Farblinie, kann er ihrem Verlauf für eine gewisse Strecke folgen, bis über kurz oder lang eine erneute senkrechte Richtungsänderung aufgrund der Schwerkraft eintritt. Der Zufall ruft auf diesem Weg den Linienverlauf hervor und schafft unvorhersehbare filigrane Netze, die den Bildraum auf dezente Weise dreidimensional strukturieren.
Obgleich sich Höller der Einflussfaktoren bewusst ist, kann sie sie dennoch nicht steuern, sodass das Ergebnis stets und weitgehend überraschend bleibt. Der Winkelzug liegt darin, dass durch die zufälligen Richtungsänderungen der eigenständig fließenden Farbe eine nicht durch die Künstlerin bestimmte Wirkung auf das Bild erzielt wird. Die bewusste Entscheidung, den Zufall als Ordnungskraft mit einzubinden, erweitert Höllers generell partizipativen künstlerischen Ansatz um eine weitere Facette.
So wie sich in „Flow Down“ und „Trail“ Flächen- und Raumkonstellationen autonom entwickeln, schaffen die im Werkblock „Shift“ (2019) isolierten ungleichmäßigen Rauten respektive Zwischenräume früherer Serien ihrerseits fiktive Räume. Die vormals körperlosen Leerstellen treten nun als Hauptprotagonisten auf und bilden meist in Form schwarzer und weißer geometrischer Flächen offene kubische Raumgebilde. Dünne Linien verleihen den in einem Schwebezustand befindlichen, architektonisch anmutenden Konstruktionen Halt und Stabilität. Das Gegenüber von Weiß und Schwarz suggeriert Licht und Schatten und verschafft – neben der Verlebendigung der Bildwirkung – durch eine deckungsgleiche Überlagerung der zwei unterschiedlich farbigen Elemente die nötige Plastizität.
In Höllers jüngster Bildserie mit dem Titel „Copy“ (2019) sind nur noch Details geometrischer Flächen, die mit einem Pendant im Farbkontrast Raumstrukturen ausbilden, zu erkennen. In Referenz zu der quadratischen Form des Bildträgers operiert die Künstlerin hier mit perspektivisch verzerrten Vierecken, die als solche nicht auf den ersten Blick erkennbar sind. Das beschriebene Phänomen der „mentalen Rotation“ klingt in einigen dieser Arbeiten wieder an. Ein differenziertes Beobachten der Formensprache ist nötig, um Parallelitäten in den Strukturen zu erkennen, die ebenso wie in der Serie „Shift“ mit dem Licht-Schatten-Effekt spielen. Durch die leichte Versetzung der deckungsgleichen schwarzen und weißen oder grünen und grauen Farbflächen entstehen in „Copy“ imaginäre räumliche Distanzen. Beim genauen Hinschauen zeigt sich, dass Höller jeweils zuerst das dunkle Viereck malt, ehe sie in einem zweiten Schritt die hellere Kopie darüber legt: Dezent, aber dennoch deutlich sichtbar, zeigt sich eine feine Reliefkante, die das räumliche Übereinander offenbart.
Beginnend mit den vibrierenden und an kosmische Energiefelder erinnernden „Moiré-Zeichnungen“, über die mit breitem Klebeband ausgeführten Wandinstallationen und die Erforschung der sogenannten Zwischenräume, vertieft sich Barbara Höller im Laufe der letzten vier Jahre systematisch immer mehr ins Detail, bis sie die kleinste Einheit – die zu Schlitzen transformierte asymmetrische Raute – zu einer raumkonstituierenden und gestaltenden Größe erhebt. Vielleicht eine Suche nach Ähnlichkeits- oder Analogiebeziehungen in Alltag, Gesellschaft, Politik und Natur? Eine Suche nach der Widerspiegelung des Makrokosmos im Mikrokosmos und umgekehrt? In jedem Fall aber haben wir es mit einer forschenden Kunst zu tun, in deren Mittelpunkt der Wahrnehmungsprozess selbst steht.
[1]
Das Konzept der Linie. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung. Herausgegeben von der Niederösterreich Gesellschaft für Kunst und Kultur / NöArt und Silvie Aigner, St. Pölten, 2018.
Hartwig Knack ist Kunsthistoriker und freir Kurator und lebt in der Nähe von Wien.